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Bedürfnisorientierte Erziehung: Was bedeutet „Attachment Parenting“ wirklich?


Kindererziehung ist ein sehr emotionales Thema. Vor allem, wenn die Ansichten von Eltern weit voneinander entfernt sind, können hitzige Diskussionen entbrennen. Bedürfnisorientierte Erziehung steht seit einigen Jahren vermehrt im Fokus — und für manche scheint sie der einzig wahre Weg zu sein. Andere Eltern dagegen fühlen sich von den Ansprüchen überfordert. Oder meinen, dass Bedürfnisorientierung gleichbedeutend mit fehlender Erziehung oder schlechten Manieren sei.

Unsere Autorin und Mama-Bloggerin Hanna fasst hier zusammen, was sich hinter bedürfnisorientierter Erziehung oder Attachment Parenting verbirgt und woher die Kritik an dem Erziehungskonzept kommt.

Was bedeutet „Bedürfnisorientierte Erziehung“?

Bedürfnisorientierte Erziehung (auch Bindungsorientierte Erziehung oder Attachment Parenting genannt) geht davon aus, dass Kinder sich gesund und richtig entwickeln, wenn sie in einer liebevollen und sicheren Bindung zu mindestens einer Bezugsperson aufwachsen. Dazu gehört vor allem bei Babys, ihre Grundbedürfnisse wie Hunger oder Körperkontakt unmittelbar zu stillen und später, die Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen.

Es geht in der bedürfnisorientierten Erziehung nicht um die Erfüllung aller Wünsche von Kindern, sondern um den respektvollen, verantwortungsbewussten Umgang mit ihren Bedürfnissen. Das heißt, ein Kind wächst in einer vertrauensvollen, verlässlichen Umgebung auf und in dem Wissen, dass es zwar nicht alles haben kann, aber dass es ernst genommen wird.

Dieses Verständnis von Erziehung ist nicht neu, sondern wurde bereits in den 1940ern erstmals formuliert und seitdem immer wieder durch interdisziplinäre Forschungsergebnisse bestätigt. Bindungsorientierter Umgang entspricht außerdem dem instinktiven Verhalten vieler Mütter — wenn es ihnen gelingt, abseits von gesellschaftlichen Normen und erlernten Mustern zu handeln.

 

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Grundprinzipien des Attachment Parenting

Der englische Begriff der bindungsorientierten Elternschaft Attachment Parenting (AP) geht vorrangig auf den amerikanischen Kinderarzt und achtfachen Vater Dr. William Sears zurück. In seinem Buch „Das Attachment Parenting Buch“ formuliert er die Leitprinzipien des AP, die sogenannten Baby-Bs (im Englischen beginnen alle mit einem B) beachten:

  1. Bonding durch Körperkontakt unmittelbar nach der Geburt
  2. Stillen nach Bedarf
  3. Häufiges Tragen des Babys
  4. Gemeinsames Schlafen
  5. Glaube an die Signalwirkung des Weinens, unmittelbare Reaktion darauf
  6. Kein Schlaftraining oder andere Babytrainings-Programme
  7. Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen aller Familienmitglieder, Wahrung eigener Grenzen

Diese sieben Grundprinzipien sind nicht als absolut zu sehen, sondern als Hilfsmittel, eine stabile Eltern-Kind-Bindung aufzubauen. Dahinter steckt die Annahme, dass Kinder, die ihren Eltern vertrauen und überwiegend positive Erlebnisse mit ihnen verbinden, eventuellen Verboten oder Erziehungsmaßnahmen ihrer Eltern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nachkommen werden.

Von anti-autoritärer Erziehung oder laissez-faire ist Attachment Parenting damit weit entfernt. Auch mit Unerzogen, einem Erziehungsstil, der sehr viel auf Selbstbestimmung und Selbstregulation der Kinder setzt, kann AP nicht gleichgesetzt werden. Auch, wenn beide Strömungen ähnlich viel Respekt vor dem Kind aufbringen. Vielmehr sieht sich William Sears als Vertreter eines autoritativen Erziehungsstils, bei dem zwar stark auf die Kinder eingegangen wird, aber trotzdem ein hohes Maß an Kontrolle durch die Eltern erfolgt.

Woher kommt die Kritik an Bindungsorientierung?

Der Mythos vom verwöhnten Kind

Bis vor wenigen Generationen war Erziehung noch viel strenger als heute. Entsprechende Ratgeber fokussierten sich darauf, wie ein Kind möglichst gehorsam und gesellschaftskonform handeln lernt. Bei zu viel Milde und Nachsicht, so der damalige Tenor, würden Kinder ihren Eltern schnell auf der Nase herumtanzen, man würde einen „Tyrannen“ heranziehen. Schon ganz kleinen Babys wurde unterstellt, ihre Eltern durch ihr Weinen manipulieren und steuern zu wollen. Viele dieser alten Methoden und Meinungen halten sich bis heute — obwohl sie mittlerweile von Experten widerlegt wurden.

Denn durch eine Kombination aus positiven Erfahrungen und psychologischer Forschung wissen wir heute: Ein Baby kann ich nicht verwöhnen, vor allem nicht, indem ich auf sein Weinen als Äußerung von Grundbedürfnissen immer reagiere.

Erziehungsmuster der Eltern über Bord werfen

Erziehung ist immer ein sehr emotionales Thema. Intuitiv übernehmen wir viele der Erziehungsmuster und Handlungsweisen unserer Eltern und wenden diese an, wenn wir eigene Kinder haben. Das macht evolutionsbiologisch durchaus Sinn. Immerhin handelt es sich um Verhaltensweisen, die offenbar zu einem einigermaßen gesunden Erwachsenen geführt haben. Diese abzuschütteln erfordert viel Selbstreflexion und Disziplin — vor allem, sie gegen die eigenen Eltern zu behaupten, kann sehr schmerzhaft für alle Beteiligten sein.

Die ältere Generation fühlt sich möglicherweise kritisiert oder in ihrem Handeln herabgewürdigt, wenn ihre Kinder oder Enkelkinder neue Wege gehen. Denn wenn das „Neue“ tatsächlich besser sein sollte, wird das schnell im Rückschluss als Schwäche am eigenen Erziehungsstil gesehen — an dem sich ja nun im Nachhinein nichts mehr verändern lässt.

Um die eigenen Kinder bedürfnisorientiert zu erziehen, ohne im ständigen Konflikt mit den eigenen Eltern zu stehen, ist es darum wichtig, Verständnis aufzubringen. Eltern handeln in der Regel nach besten Wissen und Gewissen, wenn sie ihre Kinder großziehen. Die wenigsten möchten ihren Kindern böswillig Schaden zufügen. Und sicherlich war nicht alles, was sie ihren Kindern mitgegeben haben, falsch. Neue Wege gehen bedeutet nicht zwangsläufig, die alten Wege zu verurteilen. Wer das in der Kommunikation mit den eigenen Eltern im Hinterkopf behält, für den wird es viel einfacher werden, bindungsorientiert zu erziehen und trotzdem in Frieden mit der eigenen Kindheit zu leben.

Der Druck der Perfektion

In den letzten Monaten wurde der Begriff des Attachment Parenting viel diskutiert und häufig auch kritisiert. So würden die Ansprüche der bedürfnisorientierten Erziehung Mütter an ihre Grenzen treiben. Die hohen (Selbst)Ansprüche bindungsorientierter Mütter würden schnell dazu führen, dass diese ausgelaugt, frustriert und von einem schlechten Gewissen geplagt wären. Auch von Burnout war zu lesen und von zerstörten Beziehungen der Eltern.

Diese Fälle gibt es sicherlich. Allerdings entspringen sie nicht der Bedürfnisorientierten Erziehung selbst, sondern in einer falschen Auffassung davon. Diese geht vielleicht auch auf das Konzept des Attachment Parenting zurück. Dr. William Sears formuliert in seinem Buch sehr konkrete „Regeln“ und Richtlinien. Das kann für manche Eltern dogmatisch wirken — so, als seien sie nur gute Eltern, wenn sie alle Punkte rund um die Uhr befolgen.

Das meint bedürfnisorientierte Erziehung wirklich

Tatsächlich hat jedoch keine Erziehungstheorie den Anspruch, dass alle Eltern sich akribisch daran halten sollen. So ist das Konzept des Attachment Parenting eher als grober Wegweiser für Eltern gedacht und nicht als fixes Regelwerk. Bedürfnisorientierte Erziehung kennt keine festen Regeln und Dogmen, es handelt sich um eine Grundeinstellung. Ein Grundverständnis von Kindern und vom Menschen allgemein, das besagt, dass Kinder gleichwertig (nicht unbedingt  gleichberechtigt) sind und es ihnen hilft, wenn Eltern ihre Bedürfnisse ernst nehmen.

Eltern, die dieses Grundverständnis verinnerlicht haben, müssen sich nicht stoisch an irgendwelche Grundsätze halten. Bedürfnisorientierte Erziehung ist kein Alles-oder-Nichts-Prinzip. In der liebevollen, bindungsorientierten Erziehung geht es auch darum, authentisch zu bleiben. Eltern dürfen auch mal ungerecht oder schlecht gelaunt sein. Auch das gehört zu zwischenmenschlichen Beziehungen dazu.

Was hältst Du von Attachment Parenting und den damit verbundenen Grundsätzen? Wir freuen uns über Deinen Kommentar!

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3 Kommentare zu “Bedürfnisorientierte Erziehung: Was bedeutet „Attachment Parenting“ wirklich?

  1. Für mich ist bindungs/beziehungsorientierte Erziehung eine Grundeinstellung, wie ich meinem Kind gegenübertrete. Dass ich seine Bedürfnisse bei jeder Entscheidung versuche genau so zu gewichten, wie meine und dann einen Kompromiss suche. (Wie bei jeder Zwischenmenschlichen Beziehung.) Dass ich wenn mein Kind nicht kooperiert versuche herrauszufinden, was das dahinterliegende Bedürfnis des Kindes ist. Wenn das Kind z.B. beißt, sind das Liebesbisse, Wutbisse, ‚mal schauen, was passiert’bisse? Naturlich sind alle varianten nicht akzeptables Verhalten. Aber das Bedürfnis, das dahintersteckt ist wichtig, wenn man dem Kind sinnvolle Handlungsalternativen zeigen möchte.

  2. Der Artikel hat mir bestätigt, meiner Intuition zu folgen und meine früheren Vorstellungen oder gut gemeinte Ratschläge anderer über Bord zu werfen. Vor allem der Punkt, dass man nicht 24/7 ein perfektes Elternteil sein und stets bedürfnisorientiert handeln kann, finde ich sehr wichtig. Denn mit jedem „Erziehungsstil“ werde oft zugleich Ansprüche und Erwartungen auferlegt, die kein Elternteil rund um die Uhr erfüllen kann. Attachment Parenting ist für mich tatsächlich eher eine Grundhaltung und keine Regel oder Garantie.

  3. Vielen Dank für diesen Artikel.
    Ich glaub ich hab vorher vom Attachement parenting nur ansatzweise gehört. Jetzt wird mir klar, dass das genau das ist, wie ich meinem Kind begegne. Daher hat mich der Artikel sehr ermutigt und inspiriert weiter diesen Weg zu gehen.
    Das fühlt sich einfach richtig an und hilft mir mich auf meine Intuition verlassen zu können, als auch meinem Kind von Anfang an Kompetenzen zuzugestehen.

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