Ich geh mit Dir wohin du willst


Eigentlich wollte ich heute Morgen nur mal eben zum Supermarkt um die Ecke – eine Strecke, die (Hin- und Rückweg einberechnet) maximal 15 Minuten dauert. Alleine wohlgemerkt, denn mit einem Kleinkind, das gerade erst das Laufen für sich entdeckt hat und auf keinen Fall im Buggy sitzen oder im Tragetuch getragen werden will, dauern solche Erkundungstouren etwas länger. Eine Stunde und 53 Minuten, um genau zu sein. Von diesen knapp zwei Stunden beanspruchte ich gerade mal zehn Minuten für den Einkauf – den Rest der Zeit verbummelte der Bub an der frischen Luft. Er lief mindestens fünf Mal in jede Hauseinfahrt hinein, steckte seinen Kopf in Gartentore, untersuchte Fußmatten, sortierte Kieselsteine, kletterte Bordsteine hinauf- und hinunter, puhlte in Blumenerde, ertastete Dornenhecken, zog an Spinnweben und so weiter und so weiter. Im Sekundentakt entdeckte er neue Dinge, die es wert waren anzuhalten und genauestens hinzuschauen. Dinge, die für mich schon längst nicht mehr spannend waren, weil mein Gehirn sie als „Kenne ich in und auswendig!“ abgespeichert hatte und deswegen nicht mehr darauf reagierte.

Dafür haben wir jetzt keine Zeit!

Mal davon abgesehen, dass mir der unentwegte Erkundungstrieb eines Einjährigen fehlt, bin ich oft zu sehr in Eile, um immer wieder Innezuhalten. Ich spüre wie ich ungeduldig werde, wenn er sich umdreht und die entgegengesetzte Richtung einschlägt. Und meist schnappe ich ihn mir und trage ihn flugs zum Auto oder zu meinem Ziel, ganz einfach weil das schneller geht. Und genau das ist eigentlich nicht fair. Seiner großen Schwester (4,5 Jahre) ließ ich bei vielen Gelegenheiten alle Zeit der Welt, damit sie tun konnte, was für Kinder in diesem Alter wichtig ist: Ohne Druck und meine Einmischung ihre Umgebung auskundschaften. Der Bub dagegen wird oft einfach mitgeschleppt, ganz egal was er in diesem Moment will. Geduldig wie er ist, ließ er das oft mit sich machen – ich sage bewusst „ließ“, denn je älter er wird, desto klarer gibt er mir zu verstehen, das er meine Unterbrechungen seines Spiels blöd findet.

Dafür nehmen wir uns jetzt einfach Zeit…

Seitdem seine Proteste lauter werden, räume ich ihm jeden Vormittag (während seine Schwester im Kindergarten ist), ein Zeitfenster von 1-2 Stunden ein, in dem er tun und lassen kann, worauf er Lust hat. Bei den aktuell sehr milden Temperaturen gehen wir meist an die frische Luft und er darf entscheiden wohin es geht. In der Regel kommen wir nicht sehr weit, weil er ja wie gesagt ständig einen Stein hochheben oder eine Pflanze befühlen muss. Ich behalte ihn dann mit etwas Abstand im Auge, damit er sich nicht gestört fühlt, aber bleibe so nah an ihm dran, dass er nicht in Gefahr gerät. Seinen unermüdlichen Erkundungstrieb finde ich übrigens bewundernswert und spannend und oft muss ich über ihn schmunzeln, wenn er die Welt für sich entdeckt. Wenn er die Katzen und Hunde in der Nachbarschaft mit einem Jauchzer begrüßt. Wenn er die mit Lichterketten behangenen Sträucher zielsicher stürmt. Wenn er mit offenem Mund über davonfliegende Tauben staunt oder mir mit seinem kleinen Zeigefinger immer wieder etwas Neues zeigt.

Entschleunigung ist Balsam für die Seele

Diese ungestörten Spaziergänge gefallen ihm offensichtlich gut, denn er gerät beim Spielen ganz schnell in einen nahezu meditativen Zustand. Hochkonzentriert und fokussiert „arbeitet“ er sich von Station zu Station und er vergisst dabei alles, was um ihn herum passiert. Mir gefallen unsere morgendlichen Runden ebenfalls. Einerseits weil mir bei diesem Schneckentempo plötzlich ebenfalls hübsche Dinge auffallen, die ich beim Vorbeisausen mit dem Rad oder mit dem Auto gar nicht so schnell erfassen könnte. Andererseits schmälern diese exklusiven Spiel- und Entdeckungsstunden mein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn am Nachmittag mal wieder fix ins Auto setzen muss, beispielsweise um die Schwester vom Kindergarten abzuholen.

Mit der großen Schwester bummeln

Apropos Schwester – sie ist ähnlich ungeduldig wie ich und so wunderte es mich nicht, als sie ihren kleinen Bruder eines Tages mit den Worten „Oh, komm schon! Das dauert!“ versuchte, in die für sie richtige Richtung zu treiben. Ich lächelte sie nur an und stimmte ihr zu, dass diese Art zu laufen mehr Zeit in Anspruch nimmt, aber ich erklärte ihr gleichzeitig, dass sie als kleines Mädchen genau so „langsam“ war und ich sie meist machen ließ. Und ich erinnerte sie daran, dass sie ja auch heute noch gerne Steinchen und Stöckchen sammelt. Sie nahm das kommentarlos auf, sagte seitdem aber auch nichts „Antreibendes“ mehr zu ihrem Bruder. Dafür erlebe ich die beiden gelegentlich bei gemeinsamen Streifzügen durch Natur und Nachbarschaft und wie sie eifrig meine ihre Taschen mit ihren Fundstücken füllen :)  

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