Als ich mich entschieden habe, über das Thema „Latenzphase“ einen Artikel zu schreiben, dachte ich, das sei für mich kein großartiges Problem. In meiner über 20jährigen Berufslaufbahn habe ich unzählige Frauen in ihrer Latenzphase erlebt, betreut und begleitet. Und in der Regel erkennt eine erfahrene Hebamme relativ schnell, ob die Schwangere, die da mit Wehen in den Kreißsaal kommt, wirklich unter der Geburt ist, oder eben noch nicht so richtig.
Aber es ist nicht so einfach, zu erklären, warum ich das erkenne. Und tatsächlich ist es so, dass selbst erfahrenere Kolleginnen schon ordentlich daneben lagen.
Außerdem hat sich in den letzten Jahren die „offizielle“ Defintion der Latenzphase verändert.
Also – was ist die Latenzphase der Geburt? Wodurch unterscheidet sie sich von dem Beginn der Geburt? Oder tut sie das vielleicht gar nicht?
Lässt sich die Latenzphase durch irgendeine Maßnahme abkürzen? Oder bedeutet eine lange Latenzphase eine kürzere Geburt?
Diesen Fragen möchte ich mich heute widmen und ich hoffe, dabei das ein- oder andere Fragezeichen auflösen zu können.
Was ist die Latenzphase – und was passiert in Deinem Körper?
Laut Doc Check Flexikon bezeichnet man als Latenz „den Zeitraum zwischen dem Stattfinden eines Reizes und der Reizantwort bzw. seiner Wahrnehmung“.
In der Geburtshilfe haben wir jahre- wenn nicht jahrzehntelang als Latenzzeit eine Phase vor Beginn der eigentlichen ersten Geburtsphase bezeichnet.
Die Latenzphase ist also eine Phase, in der die Schwangere immer wieder Wehen hat, teilweise auch kräftige, schmerzhafte Wehen, sich der Muttermund aber nicht wirklich öffnet UND – und das ist mir ganz wichtig – kein zuverlässiger Geburtsfortschritt zu beobachten ist. Das heißt, der Muttermund verändert sich innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden nicht oder nicht signifikant.
Trotzdem „passiert“ in dieser Zeit ganz viel, denn der Körper bereitet sich vor, das Gewebe am Muttermund wird weicher, der Schleimpfropf kann sich lösen, das Köpfchen des Babys rutscht eventuell noch einmal nach unten oder begibt sich in eine für die Geburt günstigere Position. All diese Fortschritte sind aber relativ klein und nicht wirklich an Zahlen oder Werten abzumessen, weshalb häufig der Eindruck bei Schwangeren entsteht, es wäre „gar nichts“ passiert.
Neue Definition der Latenzphase
Nun ist Dir sicherlich nicht entgangen, dass ich in der Vergangenheitsform geschrieben habe. Denn mit der Einführung der neuen S3 Leitlinie Ende 2020 hat sich die offizielle Defintion der Latenzphase verändert.
Ein kurzer Einschub zur Erklärung: in der Medizin und so auch in der Geburtshilfe werden immer wieder aktualisierte „Leitlinien “ veröffentlicht, die eine Art Handlungs- oder Verhaltensempfehlung in bestimmten Fragestellungen darstellen. Bei der S3 Leitlinie zur vaginalen Geburt am Entbindungstermin geht es um Fragen wie das Vorgehen bei Blasensprung, Diabetes, Einleitung, PDA usw. Falls Dich die ganze Leitlinie interessiert, kannst Du sie hier nachlesen.
Nach dieser Definition deckt die Latenzphase nun bereits einen Großteil der Geburt mit ab, nämlich die Zeit von „Geburtsbeginn bis zu einer Muttermundseröffnung von 4-6 cm“. Während also früher die Latenzphase etwas war, was – zumindest umgangssprachlich und in Hebammenkreisen – VOR dem eigentlichen Geburtsbeginn stattfand, gehört sie jetzt dazu.
Warum ist mir diese Unterscheidung so wichtig?
Wie ich bereits im oberen Abschnitte erläutert habe, geht die Latenzphase mit einem nicht zwingend stattfindenden Fortschritt an der Eröffnung des Muttermundes einher. Das bedeutet: Wenn Du mit Wehen in den Kreißsaal kommst und die Hebamme untersucht einen Muttermund, der für einen Finger offen ist, heißt das alleine erst einmal gar nichts. Entscheidend für den Geburtsbeginn ist die Entwicklung der Wehen und die weitere Muttermundseröffnung.
Theoretisch kann es in der Latenzphase nämlich auch passieren, dass die Wehen wieder komplett einschlafen und Du noch mehrere Tage oder gar Wochen schwanger bist. Und Dein Frauenarzt bei der nächsten Vorsorge 2 Tage später den gleichen Muttermundsbefund erhebt. Das wird bei einem Muttermund von 4 oder gar 6 cm ganz sicher nicht mehr passieren, weshalb ich die jetzige Defintion nicht sonderlich glücklich und auch etwas verwirrend finde.
Bei Mehrgebärenden, deren Muttermund bereits ein-oder mehrmals eröffnet war, ist oft Wochen vor der Geburt bereits eine Eröffnung des Muttermunds zu verzeichnen, selbst wenn sie gar nicht wirklich Wehen hatten. Das geschieht, weil das Gewebe sehr weich ist und der Druck des Köpfchens alleine ausreichen kann, um diesen weichen Muttermund ein wenig zu öffnen. Das ist nur eine Randinformation, denn mit der Latenzphase hat dieser Umstand nichts zu tun.
Was kannst Du in der Latenzphase tun?
Ehrlich gesagt halte ich von irgendwelchen diesbezüglichen Tipps rein überhaupt nichts. Ich habe schon mehrfach Frauen erlebt, die sich Nächte um die Ohren geschlagen haben, um die Geburt zu beschleunigen, und als es dann endlich losging, waren sie körperlich schon völlig fertig.
Nicht überanstrengen – und den Alltag möglichst beibehalten
Mein einziger Tipp, den ich Dir wirklich geben möchte ist: Höre auf DICH, auf DEINEN Körper und versuche, Dich nicht allzu sehr auf die Geburt zu fokussieren, denn noch ist es ja nicht so weit.
Wenn Bewegung Dir gut tut, beweg Dich. Wenn Dein Körper aber müde und erschöpft ist, und Du schlafen, bzw. dösen oder ruhen kannst, dann mach genau das. Ein müder Körper tut sich mit den Wehen viel schwerer, und wenn die Wehen kräftiger werden, kannst Du eh nicht mehr schlafen. Du verpasst also gar nichts.
Ansonsten behalt ruhig so lang wie möglich Deinen „normalen Alltag“ bei. Die Gassi-Runde mit dem Hund, Kuchen backen für den Geburtstag der Freundin (oder auch für Dein Wochenbett), Wäsche aufhängen… Den Kopf frei zu machen, davon, dass der Körper Wehen machen soll, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das passiert ab dem zweiten Kind oft automatisch, denn da ist ja bereits jemand, der Deine Aufmerksamkeit fordert und für den Du möglichst lange „normal“ funktionieren möchtest.
Aber beim ersten Kind – finde ich – verpufft viel Energie zu einem Zeitpunkt, wo Du sie eigentlich eher ein bisschen aufsparen solltest. So ähnlich, wie wenn Du einen Marathon vor Dir hast und zu Anfang so lospreschst, dass Dir nach Kilometer 20 komplett die Puste ausgeht.
Beim ersten Kind ist die Latenzphase meist länger
Erfahrungsgemäß ist gerade beim ersten Kind die Latenzphase lang genug, um nicht in Panik oder blanken Aktionismus verfallen zu müssen. Du kannst also ganz beruhigt erst einmal schauen und in Dich reinhören:
- Verändern sich die Wehen?
- Bist Du müde?
- Tut Bewegung Dir gut?
- Hilft Dir Wärme?
- Möchtest Du allein sein oder brauchst Du jemanden um Dich herum?
- Gibt es noch irgend etwas, was Du vor der Geburt erledigt haben willst?
Kann ich die Latenzphase beschleunigen?
Studien zufolge verkürzt sich die Latenzphase (oder auch die frühe Eröffnungsphase) eher durch Maßnahmen, die Du deutlich früher, nämlich in den letzten Wochen vor dem Entbindungstermin, ergreifen kannst. Also zum Beispiel Akupunktur zur Geburtsvorbereitung, Datteln essen oder Himbeerblättertee.
In der Latenzphase selbst kannst Du meines Erachtens nur beeinflussen, wie präsent Dir die Wehen sind und welchen Raum sie einnehmen. Denn das verändert maßgeblich deren Empfindung und auch die Empfindung der Länge der Geburt.
Ich denke, jeder kennt das Gefühl, einen kleinen Infekt zu haben, der einen zwar beeinträchtigt, aber nicht wirklich ans Bett fesselt. Wenn man abgelenkt ist, spürt man das Halskratzen und die verstopfte Nase auch, aber all das ist nicht so schlimm, wie wenn man daheim auf der Couch liegt und sich nur darauf fokussiert wie verstopft die Nase ist und wie arg der Hals schmerzt. Wenn der Infekt schlimmer wird, hat man diese Option irgendwann nicht mehr, da geht man ins Bett, weil der Körper einfach fertig ist.
Und so ähnlich ist es mit den Wehen auch. Irgendwann wird der Punkt kommen, an dem Du merkst, dass die Wehen aufgrund ihrer Intensität und Häufigkeit gar nicht mehr sonderlich viel Raum für etwas anderes lassen. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Geburt wirklich beginnt, relativ groß.
Und der Vollständigkeit halber: Eine relativ lange Latenzphase sagt nichts über den Verlauf der Geburt aus. Es gibt schnelle Geburten nach langen Latenzphasen ebenso häufig wie lange Latenzphasen in Kombination mit zähen Geburtsverläufen.
Meine Tipps für die Latenzphase
- Versuche, herauszufinden, was Dir gut tut und mach das dann auch
- Sorge ggf. für Ablenkung/ Entspannung/ Beruhigung, sei es durch einen Spaziergang mit der besten Freundin, ein Bad, Deine Lieblingsserie….
- Wenn es noch etwas auf deiner „To-Do-Liste“ vor der Geburt gibt, erledige es (Kliniktasche fertig packen, letzte Babysachen waschen, Haustiere versorgen/ Unterbringung organisieren, Beine rasieren, wenn Dir das wichtig ist…)
- Partner/ Begleitperson eventuell schon mal „vorwarnen“
- Bei Unsicherheit Kontakt zur Geburtsklinik/ Hebamme aufnehmen
Am Ende ist es wie so oft in diesen ganzen Themen rund um Schwangerschaft, Geburt und Baby: Es gibt sie nicht, die eine, allgemeingültige Lösung oder Wahrheit für alle, dafür sind wir einfach alle zu verschieden. Und das ist ja auch gut so. Vertrau Dir und Deinem Baby und hör am allermeisten auf Dich, dann werdet Ihr das schon gut und „richtig“ hinbekommen.
Was hat Dir in der Latenzphase geholfen – und wie lange hat es noch bis zur Geburt gedauert? Verrate es mir gerne in den Kommentaren!
Mehr Infos dazu findest Du hier.