Ich weiß noch, wie ich damals beim ersten Kind dachte: „Krass, kommt der jetzt schon in die Trotzphase?!“ Mit 15 Monaten lag er bei Kleinigkeiten weinend auf dem Boden und schien sich richtig zu ärgern, wenn etwas nicht so war, wie er wollte. Tatsächlich war mein Kleinkind nicht in der Trotzphase – sondern im 9. Wachstumsschub, dem 64-Wochen-Schub. Wenn Dein Kind sich mit 15 bzw. 16 Monaten ebenfalls ungewohnt gereizt, ungeduldig und quengelig verhält, erkläre ich Dir jetzt, woran das liegt.
Wann beginnt der 64 Wochen Schub?
Der 9. Entwicklungsschub kündigt sich ab Woche 59 nach dem errechneten Entbindungstermin (ET) an und erreicht in der 64. Woche seinen Höhepunkt, daher der Name. Normalerweise dauert er also etwa 5 Wochen, es kann aber auch bis zu 9 Wochen dauern, bis sich Dein Kind an all die neuen Fähigkeiten gewöhnt hat. Wann genau er vorbei ist, ist also von Kind zu Kind individuell. Der Zeitpunkt, wann die jeweiligen Entwicklungsschübe stattfinden und welche kognitiven Grundlagen in dieser Zeit erlernt werden, ist aber bei allen Kindern gleich.
Erstmals beschrieben wurden die ersten 10 Entwicklungsschübe bei Babys und Kleinkindern im Elternratgeber „Ohje, ich wachse“. Das gibt es als Buch oder App, die Dir den jeweiligen Schub bei Deinem Kind anzeigt. Im Normalfall erkennst Du aber auch ohne Literatur oder App ganz deutlich, dass bei Deinem Kind etwas anders ist – es ist in diesen Phasen oft nicht wieder zu erkennen, ist plötzlich anhänglich, nörgelt viel und schläft schlecht.
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Was passiert im 64 Wochen Schub?
➜ Kognitive Fähigkeiten über Nacht
Das unangenehme Verhalten von Babys und Kleinkindern während eines Schubs wird, so die Annahme, dadurch verursacht, dass im Kopf viel passiert. Mit jedem Entwicklungsschub kommen schlagartig neue kognitive Fähigkeiten, die erst einmal verarbeitet werden müssen. Wir können uns das vielleicht so vorstellen, als würden wir eines morgens aufwachen und die ganze Welt völlig neu sehen können. Wir haben ganz neue Möglichkeiten und alles wirkt plötzlich gar nicht mehr so selbstverständlich und vertraut. Dann sind wir damit beschäftigt, all die neuen Möglichkeiten auszuprobieren und neue Fähigkeiten zu perfektionieren. Dass das auch Stress bedeutet, kann man gut nachvollziehen.
➜ Von „Programmen“ zu „Prinzipien“
Im Schub mit 64 Wochen ist häufig von der Welt der „Prinzipien“ die Rede. Das bedeutet nichts anderes, als dass Dein Kind jetzt seine bisherigen Verhaltensweisen viel sicherer durchführen, aber auch variieren kann. Bisher konnte Dein Kind „Programme“ ausführen – also eine feste Abfolge von Tätigkeiten. Jetzt ist es in der Lage, diese Abfolgen zu variieren, zu überdenken und eigene zu erfinden. Dann spricht man von „Prinzipien“ – die Programme sind jetzt variabel.
➜ Strategisches Handeln
Du kannst Dir das vorstellen wie ein kognitives „Update“ – Kleinkinder können jetzt nachdenken, vorausschauend handeln und die Konsequenzen abwägen. Dein Kind macht also Pläne und geht davon aus, dass diese funktionieren. Es hat eine Strategie – zum ersten Mal im Leben! Wenn die nicht funktioniert, weil einem Kind mit 16 Monaten eben die Erfahrung fehlt und es vieles noch nicht kann, dann ist das frustrierend.
➜ Frustrationstoleranz gleich null
Diese Frustration zeigt sich dann in den lautstarken „Wutanfällen“ mit 16 Monaten. Denn es entwickelt zwar mehr und mehr Eigenständigkeit, ihm fehlt aber noch die Geduld und Frustrationstoleranz, um Fehlschläge in diesem Prozess zu verarbeiten.
Verbote sind jetzt ein großes Thema, Grenzen werden neu verhandelt. Kleinkinder verstehen sehr gut, was ein „Nein“ bedeutet, während des 64-Wochen-Schubs reagieren sie aber besonders sensibel darauf. Das ist gut nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen hält, dass sie sich gedanklich etwas zurecht gelegt haben – und dann wird es durch ein einfaches Wort zunichte gemacht.
➜ Anhänglich hoch zehn
Dein Kind muss jetzt viele Entscheidungen treffen, und das ist anstrengend. Auch ohne viele Verbote kann es darum sein, dass es quengelig und vor allem anhänglich ist. Wenn Du kannst, gib ihm die Nähe und Zuneigung, die es braucht. Warum Dir das vielleicht nicht immer gelingt, dazu gleich mehr.
Gleichzeitig wirst Du merken, wie alltägliche Vorgänge und Bewegungsmuster immer besser und sicherer funktionieren. Imitieren und Vorgänge nachahmen ist weiterhin ein großes Thema – und wird jetzt um so vieles besser beherrscht. Vielleicht fühlst Du Dich manchmal, als würde Dir der Spiegel vorgehalten? Du verstehst jetzt sicher, warum es häufig heißt, Kinder machen nicht das, was man ihnen sagt, sondern was man ihnen vorlebt.
➜ Sprachliche Fortschritte
Manche Kinder machen jetzt sprachlich wahnsinnige Fortschritte. Sie verstehen gefühlt auf einmal alles. Die Aufforderung, bestimmte Schuhe zu bringen oder die Arme zu heben führt genau zum gewollten Ergebnis. Einige Kinder versuchen jetzt, fast alle Worte nachzusprechen, die sie hören. Bücher sind in dieser Phase unvergleichlich wertvoll. Bücher anschauen und Vorlesen fördert die Sprachentwicklung Deines Kindes auch schon mit 15 Monaten.
Lies hier, was Du beim Sprechen lernen fördern beachten solltest
➜ Motorisch weiterkommen
Während einige Kinder also sprachlich sehr schnell sind, entwickeln andere im 64-Wochen-Schub vor allem die motorischen Fähigkeiten weiter und lernen z.B. frei stehen und aufstehen oder frei laufen.
Wahrscheinlich wirst Du bei Deinem Kind auch körperliches Wachstum in dieser Zeit feststellen, vielleicht braucht ihr eine neue Kleidergröße. Auch der Körperbau verändert sich vom gedrungenen Babykörper hin zu einem schlankeren, längeren Kleinkindkörper. Kognitiver Entwicklungsschub und körperlicher Wachstumsschub gehen in aller Regel Hand in Hand.
Der 9. Wachstumsschub & Schlaf
Leider bedeuten Entwicklungsschübe bei Babys und Kleinkindern fast immer, dass sie schlechter einschlafen oder durchschlafen. Auch Kinder, die jetzt schon durchgeschlafen haben, werden nachts vielleicht wieder häufiger wach. Andere wachen panisch auf und lassen sich ausschließlich von Mama beruhigen. Wie Kinder im 64 Wochen Schub schlafen, variiert natürlich sehr stark. Es gibt auch Kinder, die im Schlafverhalten überhaupt keine Veränderung zeigen.
Auch essen kann während eines Schubs schwierig werden. Stillkinder wollen jetzt vermutlich wieder vermehrt an die Brust, Flaschenkinder fordern plötzlich wieder Milch statt fester Nahrung. Unsere Kleinen werden anhänglich, Mama darf nicht allein auf Toilette oder sich zu weit entfernen.
Viele hilfreiche Tipps zum Thema Schlafen & Durchschlafen erklärt Dir Lara im Beitrag „Dein Kleinkind schläft nicht durch: Ursachen & Strategien„
Warum ist der 64 Wochen Schub so schlimm?
Wenn Du in diesen Tagen Dein Kind sprichwörtlich an die Wand klatschen könntest und oft das Gefühl hast, die Situation nicht mehr auszuhalten, dann lass Dir vor allem sagen: Du bist nicht allein. So geht es sehr vielen Eltern. Immerhin machen wir das Ganze jetzt zum 9. Mal durch und langsam sinkt das Verständnis. „Du bist doch jetzt kein Baby mehr“, habe ich mir oft gedacht. Von einem Kleinkind mit 15 oder 16 Monaten kann man doch wohl erwarten, dass es kurz wartet, bis ich mir ein Brot geschmiert oder meine Haare geföhnt habe – oder?
Das Verhalten des Kindes im 64 Wochen Schub löst bei vielen Eltern Stress und Ärger aus. Eine Situation, der man am liebsten entfliehen würde. Allerdings können wir das selten, denn wir müssen uns ja um unser Kind kümmern. Die psychologische Reaktion auf diese Situation ist Wut. Wut ist eine natürliche Reaktion, wenn wir unsere Bedürfnisse nicht erfüllt oder übergangen sehen. Wenn uns jemand nicht in Ruhe lässt.
Du musst Dich also nicht schuldig fühlen, wenn Du wütend wirst. Versuche stattdessen, die Wochen während des Schubs irgendwie erträglicher für Dich zu machen, indem Du:
- Unterstützung von Freunden und Familie suchst
- Viel nach draußen in die Natur gehst
- Dir möglichst wenige Termine in diesen Zeitraum legst
- Besuch von anderen Mamas mit Kind hast – das schafft Ablenkung und führt Dir vor Augen, dass andere Eltern die selben Schwierigkeiten haben
- Ausreichend schläfst
- Für ausreichend Schlaf bei Deinem Kind sorgst
- Auch mal Nein sagst, wenn Dir das mehr Luft im Alltag verschafft
Wenn Du denkst, der Schub ist ja zum Glück bald vorbei, kann ich schon mal spoilern: Der 75-Wochen-Schub kommt schneller, als Du denkst.
➜ Zum Weiterlesen: Im Beitrag Wachstumsschübe beim Kleinkind: Tabelle und Überblick habe ich Dir die Schübe im Kleinkindalter übersichtlich zusammengefasst.
Welche Erfahrungen mit dem 9. Wachstumsschub hast Du gemacht? Erzähl es uns in den Kommentaren, das hilft bestimmt auch anderen Eltern.
Quellen:
- Ojeichwachse.de (2023): „Wachstumsschub 9 – 64. Woche“
Mehr Infos dazu findest Du hier.